Chris Dreier &
Gary Farrelly
Low Hanging Fruit
22.10. - 15.01.2017 

Das tief empfundene Gefühl einer echten Künstlerfreundschaft, ein seit Jahrhunderten bekanntes Motiv, transportieren Chris Dreier und Gary Farrelly auf eine ganz neue, abstrakte Ebene. Beide haben sich der Rationalität der Moderne verschrieben und werden von einer intensiven Leidenschaft für deren Errungenschaften angetrieben. Dabei bleiben sie, ganz im Sinne der Romantik, den ursprünglichen, affektiven Momenten ihrer Künstlerfreundschaft treu: sie schreiben sich Briefe, veranstalten gemeinsame Exkursionen und Picknicks und streben mit ihrer Kollaboration nicht weniger als ein Gesamtkunstwerk an. Unter dem Titel „Low Hanging Fruit“ stellen sie dieses gemeinsam erschaffene Werk ab Oktober 2016 in der Galerie GRÖLLE pass:projects vor.


 

The Office for Joint Administrative Intelligence Die Formen dieser gemeinsamen Aktionen sind ausgesprochen administrativ und von großer Sachlichkeit geprägt. Um ihrer freundschaftlichen Kooperation einen offiziellen Rahmen zu verleihen, haben Chris Dreier und Gary Farrelly im Jahr 2015 eine international agierende Organisation gegründet, das „Office for Joint Administrative Intelligence“, kurz OJAI. Jedes der beiden Gründungsmitglieder bestreitet dort ein Amt, wobei Chris Dreier den Sitz des „Director for Financial Research and Systemic Risk“ inne hat und vom Standort Berlin aus agiert, während Gary Farrelly den Posten des „Director for Administrative Heritage“ in der EU-Metropole Brüssel inne hat und das „Self Inventory Desk“ betreut. Durch diese ganz besondere Methode der Selbstinstitutionalisierung und mit dem Ziel der Bürokratisierung menschlicher Erfahrungen haben die beiden Künstler zusammen ein System erschaffen, in das sie modulartig all ihre Tätigkeiten und Obsessionen einklinken, so wie man einzelne Akten in einen Registraturschrank einhängen kann.

Das übergeordnete Thema für diese so ernsthafte wie humordurchdrungene Allianz liegt in der gemeinsam gepflegten Euphorie für die Moderne, sei es im Bereich der Architektur, der Infrastruktur, des Finanzwesens oder der Informationsverarbeitung – immer stehen der Fortschritt und das Rationale im Zentrum. Betrachtet man den bisherigen Werdegang und das jeweils eigenständige Werk von Chris Dreier und Gary Farrelly, dann kann man die Beweggründe für die Allianz der beiden Künstler durchaus nachvollziehen.

Chris Dreier: Director for Financial Research and Systemic Risk Die Idee des Gesamtkunstwerks verfolgt Chris Dreier seit ihrer Zeit in der Experimentalband „Die Tödliche Doris“. Zu Beginn der Achtzigerjahre hatte sie ihre Heimatstadt Wuppertal verlassen, um an der Universität der Künste in Berlin Kommunikationsdesign zu studieren. Als Schlagzeugerin war sie dort für ein Jahr Mitglied der legendären Band und Künstlergruppe „Die Tödliche Doris“ und begann bald, eigene Performances zu choreographieren und Super-8-Filme zu drehen. Das Experimentieren mit Musik und Geräuschen verschiedenster Art spielt seitdem eine große Rolle im künstlerischen Schaffen Chris Dreiers. Heute ist sie Mitglied in den Elektronik- und Noise-Gruppen Burqamachines und Spade Love, beide zusammen mit dem Berliner Musiker Frank Lohmeyer. Im Jahr 2015 hat sie zudem mit Gary Farrelly das Duo Dexia Defunct gegründet, benannt nach einem leerstehenden Bankgebäude in Brüssel.

Die Auseinandersetzung sowohl mit der Architektur als auch mit dem Finanzwesen bildet insgesamt auch das Zentrum ihres neueren Schaffens. Seit 1999 fotografiert und experimentiert sie mit selbstgebauten Lochkameras. Sie thematisiert Krieg, Zerstörung und Verfall, insbesondere den Verfall von Gebäuden der Nachkriegsmoderne. Immer transportiert sie dabei eine ganz besondere Schönheit und Atmosphäre und verweist mit ihren oft großformatigen Fotografien auf gesellschaftliche und kulturhistorische Zusammenhänge. In den letzten Jahren konzentriert sie sich mit ihren Recherchen verstärkt auf das Gebiet der globalen Finanzmärkte und -krisen, der speziellen Sprache der Finanzwelt, den scheinbar undurchdringbaren, durchbürokratisierten Systemen. Die Ergebnisse ihrer Recherche zeigt Chris Dreier in Form von Fotografien, Installationen, bestickten Wandteppichen und Malereien. Ihre Faszination für Architektur und Wirtschaft ist zudem ein durchgehender Bestandteil ihrer Videoarbeiten und ihrer Noise-Musik. Chris Dreier, geboren 1961 in Wuppertal, hat ihr Studium an der Universität der Künste Berlin mit einem Diplom in Kommunikationsdesign abgeschlossen. Ihre künstlerischen Arbeiten werden in Deutschland und weit darüber hinaus ausgestellt, wie z.B. im Museum für Zeitgenössische Kunst in Wroclaw/Polen, im New Mexico History Museum in Santa Fe und im Centre d’Art Contemporaine in Brest, Frankreich. Chris Dreiers Kunst wird vertreten durch die Galerie Laura Mars, Berlin, und durch die Galerie GRÖLLE pass:projects, Wuppertal. 

Gary Farrelly: Director for Administrative Heritage and Self Inventory Desk Die Kunst der Selbstinstitutionalisierung betreibt der in Dublin geborene Gary Farrelly bereits seit einigen Jahren. Macht, Kontrolle und die Frage, wie man sich als Individuum seine Autonomie bewahren kann, sind Themen, die in seinem Werk verarbeitet. Seinen eigenen Körper betrachtet er als eine Art Staat mitsamt einer strikt gesteuerten Infrastruktur, für den er in regelmäßigen Abständen Zwei-Jahres-Pläne entwirft. Somit gestaltet sich Farrellys Leben als eine administrative Dauer-Performance. Die Dokumentation und die Ergebnisse dieser Selbstverwaltung fließen in die künstlerischen Arbeiten Farrellys ein, wobei er sich insgesamt ganz unterschiedlicher Mittel bedient, z.B. dem der Collage. Das System, das alle Elemente bündelt und ihnen Dynamik verleiht, ist die so genannte “Mailart”.

Fasziniert von straff organisierten, technisierten Abläufen, gut funktionierenden Infrastrukturen und rational koordinierten Systemen, schwärmt der “Director for Administrative Heritage” von Bahnhöfen, Flughäfen, Flurzeugen, Fußgängertunnels und nicht zuletzt von der Post. Transportsysteme und Infrastrukturen sind nicht nur das Thema seiner Collagen, er benutzt sie auch und macht sie zu einem Teil seiner künstlerischen Dauerperformance: aufwändig adressiert und frankiert verschickt Farrelly einen Teil seiner Arbeiten, und zwar so, dass sie unverpackt durch zahllose Maschinen und Hände laufen und man ihnen ihren Weg in all ihrer Robustheit schließlich auch ansieht. Seine Collagen beinhalten einen hohen zeichnerischen Anteil und stellen vor allem Zweckarchitektur dar, oft in Verbindung mit Tabellen und Listen. Stempel, Schriftschablonen, Letraset-Anreibebuchstaben und seine hellblaue mechanische Schreibmaschine dienen dabei als häufig benutze Werkzeuge und Materialien, nicht zuletzt auch, um Farrellys Mailart zu adressieren. Spätestens, wenn die Briefmarken dieser oft übergroßen Postkarten abgestempelt und vielleicht sogar von einem Postboten mit einem Vermerk versehen werden, hat er sein Ziel erreicht: er hat die Grenzen zwischen fiktionaler und tatsächlicher Bürokratie aufgehoben. Auf diese Weise schreibt Farrelly sowohl Institutionen an, wie beispielsweise das Museum für Wissenschaft und Technik in Nord Korea, als auch befreundete Künstler.

In der Zusammenarbeit mit Chris Dreier spielt die Künstlerkorrespondenz eine besonderer Rolle und auch die Autorin wurde durch einen sehr offiziell klingenden, straff formulierten Brief darüber informiert, was die Öffentlichkeit unbedingt über das OJAI erfahren muss. Die Auseinandersetzung mit Schrift und Sprache und modularen, iterativen Systemen führte Farrelly zudem vor einiger Zeit dazu, sich mit Stickstichen auseinanderzusetzen. Mit seinem selbstentwickelten und offiziell registrierten “Quasi-autonomous Stitch” bestickt er Postkarten seiner Lieblingsgebäude und genießt es, sich auf diese Weise ganz in die Details dieser Bauten vertiefen zu können. Manchmal mischen sich in die zu bestickenden Fotos brutalistischer Bauten auch Abbildungen junger Männer, und die Mailart gerät zur Male Art, aber das ist ganz im Sinne Farrellys: so manches Bankenhochhaus in der Silhouette Brüssels wurde von ihm schon mit dem Prädikat “Boyfriend Building” ausgezeichnet. Das Sticken wiederum verbindet ihn mit Chris Dreier, die sowohl groß angelegte Wandbehänge zum Thema Finanzkrise zu ihrem Euvre zählt, als auch kleine, detailreiche Stickereien, die einstürzende Sozialbauten der Nachkriegsmoderne zum Thema haben.

Der Ire Gary Farrelly, geboren 1983, lebt und arbeitet seit einigen Jahren im Zentrum der internationalen Bürokratie, in einem ehemaligen Regierungsgebäude der Europa-Metropole Brüssel. Nach seinem Studium der freien Kunst am National College of Art and Design (NCAD) in Dublin hat er als Artist in Residence in Paris und Dallas gearbeitet. Seine künstlerischen Arbeiten waren bisher u.a. im Museum für Zeitgenössische Textilkunst Tournai (Belgien) zu sehen, im Museum für Zeitgenössische Kunst Banja Luka (Bosnien Herzegowina), bei Parking Projects (Teheran), im Central Trak (Dallas), in der Crawford Municipal Art Gallery (Cork/Irland) und im Royal Institute of Architects (Dublin). Zurzeit verfolgt er ein Postrgaduiertenstudium an der LUCA Kunsthochschule in Brüssel. Er wird von RO2 Gallery in Dallas, Texas, und von GRÖLLE pass:projects, Wuppertal, vertreten. Das Büro als Rauminstallation: The Office for Joint Administrative Intelligence bei GRÖLLE pass:projects in Wuppertal Nachdem zwischen den Ideen Chris Dreiers und Gary Farrellys so viele Anknüpfungspunkte und Überschneidungen bestehen, ist es mehr als naheliegend, dass sie zusammen nicht weniger als ein Gesamtkunstwerk anstreben. In regelmäßigen Abständen verabreden sie sich zu minutiös geplanten Gipfeltreffen in Brüssel und in Berlin, in deren Rahmen u.a. Exkursionen stattfinden und das weitere Vorgehen des Duos geplant wird. Der zeitliche Ablauf dieser Konferenzen sowie deren Resultate werden schließlich auf der Internetseite der Organisation veröffentlicht. Auf dem Unternehmensatlas einer derart global ausgerichteten Organisation wie dem OJAI darf das Bergische Industriezentrum Wuppertal natürlich nicht fehlen, auch weil dort mit der Galerie GRÖLLE pass:projects der Ausgangspunkt der zum Kunstwerk überhöhten Freundschaft der beiden Protagonisten liegt. Dort, wo sich Chris Dreier und Gary Farrelly im Januar 2015 kennen gelernt haben, wird das Office for Joint Administrative Intelligence im Rahmen der Ausstellung “Low Hanging Fruit” nun eine weitere Dependance eröffnen.

Zuletzt waren Arbeiten von Chris Dreier und Gary Farrelly bei GRÖLLE pass:projects als Teil der Ausstellung “Heimatplan” im Januar 2016 zu sehen. Nun entsteht dort ein großer bürokratischer Apparat, der all ihre Ideen geordnet zuammenfasst und sich in einer Büro-Rauminstallion manifestiert. Der eingangs erwähnte Registraturschrank kommt in diesem groß angelegten Environment ganz konkret als zentrales Element zum Einsatz. Die von den beiden Künstlern in den letzten Monaten erarbeitete Mailart sowie gesammelte und selbstgestaltete Bücher, Dokumentationen ihrer Exkursionen, Landkarten, Listen, Dossiers, Memos und Diagramme – all das ordnen sie in ihren Aktenschrank ein. Zudem präsentieren sie Stickarbeiten, eine fotografische Serie über Finanzarchitektur und geben ihren Annual Report als Publikation heraus. Chris Dreier und Gary Farrelly gehen sogar so weit, dass sie das Büro ScAle Architects (Maurizio Scalera and Benedetta Alessi) mit dem Entwurf eines fiktivien Hauptquartiers beauftragt haben. Die Entwürfe sowie die Korrespondenz mit den Architekten aus Perugia werden ebenfalls in Wuppertal zu sehen sein. Die Auswertung ihrer kürzlich durchgeführten Umfrage „Policy and Instincts“ verleiht dem Projekt OJAI darüber hinaus endgültig alle Weihen eines interdisziplinären Gesamtkunstwerkes.

Dexia Defunct: Statistik wird zu Musik Vor kurzem hat das OJAI einen repräsentativen Anteil der Weltbevölkerung zu ihren politischen, finanziellen, romantischen und materiellen Ansichten befragt. Auf dem an die interessierte Öffentlichkeit gerichteten Fragebogen wurde beispielsweise nach dem jeweils bevorzugten Zahlungsmittel gefragt (Gold oder Bitcoins?), nach der bevorzugten Fortbewegungsart (durch den Fußgängertunnel, über die Autobahn, mit dem Schnellzug, dem Verkehrsflugzeug oder im eigenen Privatjet?) und auch, wie man generell zum Ausfüllen von Formularen steht. Die Ergebnisse dieser Erhebung sollen im Oktober jedoch nicht ausschließlich in Form von Diagrammen und Kurven präsentiert werden, sie bilden darüber hinaus die Basis für eine Soundperformance des Künstlerduos, das mit der Noiseband Dexia Defunct den musikalischen Ableger des OJAI betreibt. Jeder möglichen Antwort wird dabei ein Geräusch zugeordnet, das der auf elektronische Sounds spezialisierte Musiker Frank Lohmeyer in eine elektronische Datenbank eingepflegt hat. Auf diese Weise entsteht ein Noise-Stück, das im Rahmen einer Musikperformance von Dexia Defunct bei der Ausstellungseröffnung in Wuppertal seine Uraufführung erleben wird. Bis dahin werden die beiden Köpfe des Office for Joint Administrative Intelligence wahrscheinlich noch viele weitere phantastische Ideen entwickelt haben, die in den Verwaltungsapparat mit einfließen und in der ständig wachsenden Hängeregistratur mit abgelegt werden.

Die Ausstellung LOW HANGING FRUIT ist vom 22. Oktober 2016 bis zum 15. Januar 2017 in der Galerie GRÖLLE pass:projects zu sehen. Zusätzlich zu der Ausstellung stellt das OJAI ein umfassendes Rahmenprogramm zusammen, u.a. mit einem Filmabend und Vorträgen, sowie einer Exkursion zu einem sogenannten “Angsttunnel” in Wuppertal Barmen. Die einzelnen Termine werden noch bekannt gegeben. Julia Zinnbauer, August 2016